Direkt vor Jürg Gerbers Haus in Grüt (Gossau) vollzog sich einst der Wandel. Von der Geburt bis zu seinem elften Lebensjahr ratterte die WMB vorüber, danach der VZO-Bus. Das hatte Folgen. Zuerst für neckische Spiele, später für seinen Broterwerb.
«Die waren schon ziemlich besäuselt», sagt Jürg Gerber und lacht breit übers sonnengebräunte Gesicht. So erinnert sich der 84-Jährige an den 15. Mai 1950 als die Wetzikon-Meilen-Bahn mit den Festgästen zum letzten Mal fuhr. Wie allerorts an der Linie wurden sie auch am Bahnhöfli Grüt mit Wein empfangen – direkt vor seinem Elternhaus. Auch im Dorf sei die Stimmung fröhlich gewesen, keine Spur von Wehmut, weil ab jetzt die Strasse und nicht mehr die Schiene zur Hauptverkehrsader in der Region wurde.
Das galt auch für den damals 11-jährigen Buben, obwohl er heute sagt: «Es war schon schön das Bähnli.» Vor allem prägte es seine Kindheit. Regelmässig half er seinem Vater und anderen Bauern aus Grüt, die Milchkannen von der Rampe des Bahnhöflis auf die Waggons zu verladen. Die Milch ging nach Wetzikon oder Uster.
Schabernack und Schadenfreude
«Als Buben haben wir gerne die Schienen mit Schmierseife eingeseift damit es schön durchdreht», erzählt Gerber. Auch hätten sich die Buben manchmal auf dem Velo am Zug angehängt, was den Kondukteur in Rage brachte. Mit lautem Lachen gibt er eine weitere heitere Anekdote zum Besten: «Die Frau des Posthalters hatte Schuhe in der Stadt bestellt, das Paket fiel aber in einer Kurve aus dem Postwagen direkt auf die Schienen und wurde vom nächsten Wagen überfahren.»Diese Zeit der Bubenstreiche und lustigen Vorfälle war schlagartig vorbei wie auch das Milchverladen. Aber das Verschwinden des Bähnlis stimmte ihn nicht traurig. Es habe einfach eine neue, moderne Zeit begonnen. «Vor allem wegen der Alfa Romeo-Busse», schwärmt er noch heute von den eleganten ersten Fahrzeugen der VZO. Die Busse waren flexibler und sie brauchten keinen Gleisunterhalt.
Persönlich änderte sich mit dem Wechsel von Schiene auf Strasse für Gerber kaum etwas. «Man blieb damals meist im Dorf oder fuhr mit dem Velo ins Nachbardorf.» An Busfahrten in seiner Kindheit und Jugend kann er sich darum schlecht erinnern. Erst als er Mitglied im Musikverein Gossau war, kamen die Ausflüge und Reisen zu den Musikfesten mit der VZO.
Plötzlich ein VZOler
Seither ist ein Dreivierteljahrhundert vergangen. Die Busse vor seinem Elternhaus, in dem er mit seiner Frau noch heute lebt, wurden moderner, grösser, leiser und bequemer. «Und vor allem die Reklamen werden immer grösser, die gab es früher gar nicht.» Doch darin einsteigen sieht man Gerber selten, obwohl die Station direkt vor seiner Türe liegt. «Wir haben noch eigene Autos, da benutzen wir die VZO wenig.»
Dabei war er selbst einmal ihr Angestellter. «Die VZO holte mich circa 1965 von einem anderen Transportunternehmer, wo ich Fahrer war, weil sie den Gütertransport mit Lastwagen und Anhängern entlang der Linien wieder übernahmen», sagt Gerber. Er blieb bis zur Pensionierung Anfang der 2000er-Jahre beim Verkehrsunternehmen. Doch er war nie Buschauffeur, weil er sich mit dem Gütertransport eher für die Musikproben und Konzerte am Wochenende Zeit nehmen konnte.
«Ich hatte deshalb aber nicht mehr Freiheiten, dafür waren wir zu wenige Lastwagenfahrer», winkt er ab und erwähnt zwei Episoden, wie sie früher allgemein und typisch fürs Angestelltendasein waren. Einmal konnte er nicht zur Abdankungen eines Kollegen. «Der kommt ja auch nicht an Ihre Beerdigung», versuchte ihm damals der Vorgesetzte die Arbeitslage verständlich zu machen. Auch die Geburt seiner Tochter verpasste er aus beruflichen Gründen. Nachträglich? «Nein, ich hatte einen zwar harten aber guten Chef», sagt Gerber. «Es waren halt einfach andere Zeiten – schöne Zeiten.»